Im Wartezimmer mit Leonie Jakobs

Ein Gespräch über Resilienz, Teilhabe und warum auch Rollstühle fliegen sollten.

Max Balzer & Noemi Hasler (Interview)
Noemi Hasler (Illustration)

Leonie Jakobs ist Autorin, Sensitivity Readerin und Projektmanagerin bei EUCREA, dem Netzwerk für Kunst und Behinderung. Sie leitet dort die INTO-Beratung, die Kulturschaffende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung unterstützt.


Leonie, was hat dich zuletzt kulturell begeistert?

Leonie Jakobs: Ich habe vor Kurzem Unlearn Patriarchy gelesen. Das ist eine Sammlung von Essays, geschrieben aus sehr unterschiedlichen, meist weiblichen Perspektiven – unter anderem auch von Laura Gehlhaar. Ich fand es super progressiv und auf den Punkt gebracht. Und dann habe ich noch den ersten Teil der Neuverfilmung von Wicked gesehen. Das Musical zeigt diesmal auch Disability-Repräsentation: Die Schwester der Protagonistin sitzt im Rollstuhl, und zum ersten Mal spielt die Rolle eine Schauspielerin, die selbst Rollstuhlnutzerin ist. Das hat mich begeistert, weil die Umsetzung technisch und erzählerisch so selbstverständlich gelungen ist. Es zeigt, was heute möglich ist – und wirkt fast absurd, dass man jahrzehntelang Hexen auf Besen fliegen ließ, aber nie auf die Idee kam, auch Rollstühle fliegen zu lassen.

Du bist Autorin, machst Sensitivity Reading und arbeitest als Projektmanagerin für Diversität im Kulturbereich. Wie hängt das zusammen?

Für mich bedeutet Sensibilität in Kunst und Literatur, Klischees und stereotype Rollenbilder zu hinterfragen. Viele Künstler*innen mit Behinderung bekommen nur Nebenrollen angeboten oder sollen bestimmte Stereotype verkörpern. Sensitivity Reading will diese Narrative aufbrechen und Vielfalt sichtbar machen – indem alle Rollen gespielt werden können, unabhängig von Behinderung. Auch beim Schreiben achte ich darauf, Diversität nicht als „anders“ herauszustellen, sondern selbstverständlich darzustellen.

EUCREA gibt es seit 1989. Was macht euch heute aus?

EUCREA setzt sich für die gleichberechtigte Teilhabe von Künstler*innen mit Behinderung ein. Wir arbeiten vor allem in zwei Bereichen: Zum einen mit dem ARTplus-Programm, das an künstlerischen Hochschulen angesiedelt ist und den Zugang zu Studiengängen wie Schauspiel, Bildende Kunst oder Musik erleichtert. Da geht es auch um Nachteilsausgleiche – z. B. wenn jemand aufgrund einer Neurodivergenz die Aufnahmeprüfung nicht in Präsenz absolvieren kann. Zum anderen haben wir die INTO-Beratung, die ich leite. Hier beantworten wir Anfragen von Kulturschaffenden mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen: von der Studienbewerbung über Anträge bis hin zu Vernetzungsfragen. Wir arbeiten bundesweit und kooperieren mit Expert*innen aus verschiedenen Kunstsparten.

Wie unterscheidet sich die INTO-Beratung von klassischen Beratungen?

Wir arbeiten sehr niedrigschwellig: Es gibt ein Formular auf unserer Website oder eine Telefonsprechstunde. Dann führen wir eine Erst- oder Kurzberatung durch, in der wir gemeinsam mit den Ratsuchenden überlegen, was die nächsten Schritte sind. Wir geben Impulse, vermitteln Ressourcen und ermutigen zur Selbsthilfe. Für längere Begleitungen bieten wir Coaching an. Wichtig ist uns, nicht nur Fachwissen zu teilen, sondern auch Zugang zu unserem Netzwerk.

Warum braucht es diese spezielle Beratung?

Weil Kulturschaffende mit Behinderung und chronischer Erkrankung immer noch unterrepräsentiert sind. Sie stehen vor besonderen Hürden im Kulturbereich – sei es beim Zugang zu Bildung, bei Förderanträgen oder bei der öffentlichen Wahrnehmung. Mit der INTO-Beratung wollen wir diese Lücke schließen.

Du sprichst sowohl von „Behinderung“ als auch von „chronischer Erkrankung“. Warum ist dir das wichtig?

Weil beides dazugehört. Ich sehe mich selbst als chronisch erkrankte Frau, die einen Rollstuhl nutzt – und die Barrieren entstehen oft erst durch fehlende Barrierefreiheit. Mir ist wichtig, diese Unterschiede sichtbar zu machen. Es stärkt die politische Dimension, wenn man nicht nur Behinderung nennt, sondern auch Merkmale wie chronische Erkrankung, Gehörlosigkeit oder Neurodivergenz.

Wo siehst du die größten Hürden im Kulturbereich?

Vor allem bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen: Sie werden noch viel zu oft in Werkstätten abgeschoben, die ihren Weiterbildungsauftrag kaum erfüllen. Auch für gehörlose Menschen gibt es zu wenige Angebote – Dolmetscher*innen sind teuer und werden selten finanziert. Das bedeutet: Teilhabe ist von Anfang an erschwert. Und wenn man an Kultur nicht teilhaben kann, ist es doppelt schwer, aktiv Kultur mitzugestalten.

Und die Chancen?

Viele Menschen bringen eine besondere Resilienz mit. Ich erinnere mich an eine gehörlose Schauspielerin, die beim Arbeitsamt ausgelacht wurde, als sie ihren Beruf angab. Sie hat daraus Stärke gezogen und weitergemacht. Solche Erfahrungen der Selbstbehauptung können empowern. Und das kann auch eine künstlerische Kraft sein. Außerdem kann Behinderung oder Erkrankung ein USP sein: ein Alleinstellungsmerkmal, das Kunst besonders macht.

Leonie Jakobs, Projektleiterin der INTO-Beratungsstelle bei EUCREA, veröffentlicht gemeinsam mit Co-Autorin Anne Rolle unter dem Pseudonym „Ruby Jordan“ ihren ersten Roman.  "A Coffee for Christmas" erscheint im Verlag between.pages by PIPER und erzählt eine Liebesgeschichte mit Disability-Repräsentation.

Ihr habt uns von Sick People auch beraten. Wo siehst du Potential in unserer Arbeit zwischen Krankheit und Kultur?

Mir gefällt, dass ihr den Fokus auf chronische Erkrankungen legt – das ist noch wenig sichtbar. Eure Formate, Essays und Austauschplattformen, kombiniert mit einem starken Design, finde ich sehr ansprechend. Es macht Spaß, sich mit euren Inhalten auseinanderzusetzen. Entwicklungspotenzial sehe ich vor allem in der Vernetzung mit weiteren Organisationen – auch großen Playern wie Aktion Mensch. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ihr da spannende Impulse setzen könnt.

Wenn du sowohl politisch als auch persönlich in die Zukunft blickst: Welche Veränderungen erhoffst du dir – und was wünschst du dir, dass euer Engagement bewegt?

Politisch wünsche ich mir, dass die Themen Behinderung und chronische Erkrankung stärker im Fokus stehen – etwa bei der Umsetzung der UN-BRK, die in Deutschland noch viel zu lückenhaft ist. Es braucht gesetzlichen Druck, damit Teilhabe wirklich umgesetzt wird. Für EUCREA wünsche ich mir, dass wir noch mehr Hochschulen erreichen und unsere Beratung langfristig sichern können. Und persönlich hoffe ich, dass wir Vielfalt im Kulturbereich bald nicht mehr als „Sonderthema“ verhandeln müssen, sondern als Selbstverständlichkeit.

Leonie, vielen Dank für das Gespräch!

Mehr erfahren: www.eucrea.de



Zurück
Zurück

Unspeakable Conversations

Weiter
Weiter

“These are sick people”