“These are sick people”

Über Krankheit und politische Gewalt.

Von Max Balzer

Der Literaturwissenschaftler Tobin Siebers schreibt in Disability Aesthetics, Behinderung sei die zentrale Metapher der menschlichen Disqualifikation. Was das bedeutet, ließ sich in den vergangenen Wochen in den USA beobachten. Nach der Ermordung des rechten Aktivisten Charlie Kirk wurde um die Deutungshoheit gerungen. Donald Trump und seine Administration machten linke Organisationen und Medienunternehmen für den Anschlag verantwortlich. Die Late-Night-Show „Jimmy Kimmel Live“ wurde wegen einer missliebigen Bemerkung des Hosts kurzfristig ausgesetzt. „Sie tun ihrem Publikum einen Gefallen“, kommentierte ein offizieller X-Account des Weißen Hauses, Jimmy is a sick freak.“

Ableistische Sprache ist das allgegenwärtige Grundrauschen einer Debatte, die Donald Trump und seine MAGA-Bewegung in ALL CAPS beherrschen. Über Immigranten aus Lateinamerika sagte Donald Trump, sie kämen aus „Irrenanstalten“ und vergifteten „das Blut unseres Landes“. Die Schriftstellerin E. Jean Carroll – Trump wurde des sexuellen Missbrauchs an ihr schuldig gesprochen – bezeichnete er als „Verrückte“ (nut job) und „krank, psychisch krank“.  Nancy Pelosi, nach einem Anschlag auf sie und ihren Mann, als „crazy“. Und über Linksliberale, die das politische Attentat auf Charlie Kirk rechtfertigten oder gar  feierten, sagte er: „These are sick people.“ Krankheit als Metapher der menschlichen Disqualifikation ist eingesickert in den Diskurs.


Das war eine kranke Person, die glaubte, Gewalt sei eine Lösung.
— Jimmy Kimmel

Und sie bildet scheinbar ein letztes Moment des Zusammenhalts. Jon Favreau sagte im linksliberalen Podcast Pod Save America über die Vergeltungsmaßnahmen der Trump-Regierung.  „Sie kochen vor Wut, und sie wollen eine große Gruppe von Menschen bestrafen, weit über diesen kranken Einzelnen (this sick individual) hinaus, der Charlie Kirk ermordet hat.“ Und als Jimmy Kimmel nach seiner Sendepause auf die Showbühne zurückkehrte, betonte er, dass er nicht glaube, dass der Mörder, der Charlie Kirk erschossen habe, irgendwen repräsentierte. „Das war eine kranke Person (a sick person), die glaubte, Gewalt sei eine Lösung. Und das ist sie nicht, nie.“

Offensichtlich wirkt in einer politisch aufgeladenen Situation ableistische Sprache entlastend. Sie schützt die Kommentator*innen davor, den strukturellen Ursachen von politischer Gewalt nachzugehen. Eben, weil das Konzept genutzt wird, um zu sagen: Hier hat jemand ein individuelles Problem. Das hat nichts mit uns zu tun. Nichts mit Politik. Nichts mit unserer Gesellschaft. Doch Jimmy Kimmels Aussage zielt auf eine marginalisierte Gruppe, die regelmäßig vorschnell für politische Anschläge verantwortlich gemacht wird: psychisch beeinträchtigte Menschen. Und das, obwohl es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass Tyler James Robinson, der Mörder von Charlie Kirk, psychisch „krank“ wäre.

Diese Rhetorik sagt etwas über Gesellschaft aus. Und macht etwas mit ihr. Rechte Narrative jedenfalls lassen sich so nicht auflösen. Im Gegenteil: Diskriminierende Sprache, wie genutzt von Donald Trump, dient eben dazu, gesellschaftliche Gruppen in gegenseitiger Abwertung zu verstricken. Dem lässt sich nur durch intersektionales Denken und Solidarität begegnen.

Wir sind krank, und das ist okay.
— Sick People

Das Vorurteil gegen behinderte und kranke Menschen stelle die letzte Grenze dar, an der sich menschliche Minderwertigkeit ungestraft festmachen lasse, schreibt Tobin Siebers in Disability Aesthetics. Die abwertende Verwendung werde anhalten, bis wir einen historischen Moment erreichten, in dem wir ebenso viel über die soziale Konstruktion von Behinderung wüssten wie über Kategorien wie Rasse, Klasse, Geschlecht und Sexualität. Das war im Jahr 2010.

Solange Krankheit und Behinderung als Synonym für das Böse und Falsche herhalten müssen, greift eine tief verankerte Logik, die menschliche Vielfalt auf Minderwertigkeit reduziert. Healthismus und Ableismus bleiben so akzeptierte Vorurteile. Diesen Mechanismus sichtbar zu machen und zu durchbrechen, ist zentral für eine solidarische, politische Kultur.

Wir fangen damit an, dass ihr uns Sick People nennen könnt. Denn wir sind krank, und das ist okay.

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