Unspeakable Conversations

Sick Book Club #2

„Das seltsame Drama meines Lebens hat mich auf eine Welt gebracht, die im Großen und Ganzen findet, es wäre besser, wenn es Menschen wie mich nicht gäbe.“ Harriet McBryde Johnson beschreibt in Unspeakable Conversations den zivilisierten Schlagabtausch mit dem Philosophen Peter Singer – und damit den vielleicht unsäglichsten Teil unserer Kultur: die Selbstverständlichkeit, mit der über das Lebensrecht behinderter und schwer kranker Menschen diskutiert wird.

Warum dieses Buch?

Fast zwanzig Jahre nach Erscheinen ihres Essays in der New York Times sind Johnsons Erfahrungen noch immer aktuell. Während weltweit Debatten über Sterbehilfe und assistierten Suizid geführt werden, bleiben die Perspektiven von behinderten und chronisch kranken Menschen marginalisiert. Johnson zeigt, wie gefährlich es ist, „Wahlfreiheit“ zu diskutieren, wenn Strukturen weiterhin von Ableismus und Ungleichheit geprägt sind.

Ihr Text ist kein stilles Memoir, sondern kämpferische Selbstbeschreibung: humorvoll, scharf und politisch. Sie schreibt als Anwältin, Aktivistin und Autorin, als Frau mit einer Muskelerkrankung, die einen Rollstuhl nutzt, als Person, die sich „vollkommen wohl in ihrer Haut“ fühlt – obwohl sie in ihrer Heimatstadt Charleston alltäglich Ableismus erlebt. „Gott hat mich nicht auf die Straßen gesetzt, um diesen Leuten Disability Awareness Trainings anzubieten.“

“Er besteht darauf, dass er mich nicht umbringen will.” Bereits der erste Satz in Harriet McBryde Johnsons Essay macht deutlich, welche Absurditäten und Abgründe sich in ihren Gesprächen mit dem Philosophen Peter Singer auftun.

“Er besteht darauf, dass er mich nicht umbringen will.” Bereits der erste Satz in Harriet McBryde Johnsons Essay macht deutlich, welche Absurditäten und Abgründe sich in ihren Gesprächen mit dem Philosophen Peter Singer auftun werden.

Worum geht’s?

2002 nimmt Johnson als Vertreterin von Not Dead Yet, einer US-amerikanischen Behindertenrechtsorganisation, an einer Podiumsdiskussion mit Peter Singer in Princeton teil. Singer argumentiert, Eltern sollten das Recht haben, behinderte Babys zu töten. Johnson hält dagegen – nicht mit Empörung, sondern mit ihrer Präsenz, ihrer beruflichen Erfahrung als Anwältin, ihrem Witz.

Ihr Essay schildert die Logistik ihres Lebens (Rollstuhlbreite, Assistenz, Bedpan statt Toilette) ebenso unaufgeregt wie die Ungeheuerlichkeit der Debatte: „Obwohl mich entsetzt, was er sagt, und die Tatsache, dass ich in eine zivilisierte Diskussion darüber hineingezogen wurde, ob ich überhaupt existieren sollte, kann ich mich seiner sprachlichen Brillanz kaum entziehen. Er ist so respektvoll, so frei von Herablassung, so konzentriert auf das Argument.“ Sie macht sichtbar, dass die Anwesenheit oder Abwesenheit einer Behinderung nichts über Lebensqualität aussagt – und dass Marktlogiken, Vorurteile und „Präferenzen“ nicht über Leben und Tod entscheiden sollten.

Besonders berührend ist Johnsons Schlussgedanke: Würde sie Singer als Monster definieren, dann müsste sie auch viele Menschen in ihrem Alltag – Nachbar*innen, Freund*innen, Familienmitglieder – als Monster bezeichnen. „Doch ich kann der Monster-Mehrheit grundlegenden Respekt und menschliche Sympathie nicht verweigern. It’s not in my heart.“

“It’s not in my heart.” Gerade weil sie alltäglich Ableismus erlebt, bringt es Johnson nicht übers Herz, all jene Menschen als Monster zu bezeichnen, die ihr mit Vorurteilen und eugenischen Vernichtungsfantasien begegnen.

Bewusstsein?

Peter Singer spricht Babys mit Behinderung ein Recht auf Leben ab. Das absurde Argument: Es brauche die bewusste Wahrnehmung der eigenen Existenz, um eine Person zu sein. Johnson hat eine naheliegende Entgegnung: Alle Menschen werden als Babys geboren. Ohne Bewusstsein der eigenen Existenz.

In ihrem Essay, ihrer Art zu denken und zu schreiben, leuchtet aber ein zweites Gegenargument auf. Das Dumpfe und Unbewusste mit Behinderung, Krankheit oder psychischer Beeinträchtigung zu verknüpfen, ist eine Projektion der Dominanzgesellschaft. Johnson sitzt in den Diskussionen mit Singer als ganzer Mensch auf der Bühne – in all ihrer Fragilität und Widersprüchlichkeit. Singer dagegen versteckt sich hinter der Logik seiner Philosophie, seiner professoralen Höflichkeit, der Banalität seiner Vorurteile. Er setzt sich für Massenmorde an behinderten Menschen ein. Doch seine E-Mails richtet er an „Dear Harriet“. Was bedeutet das eigentlich: die eigene Existenz bewusst wahrnehmen?

„Gegen die schreckliche Reinheit von Singers Vision setze ich den Unrat, die Unordnung und die unwiderlegbare Realität gut gelebter behinderter Leben.“

Für wen (nicht)?

Für alle, die verstehen wollen, wie tief Ableismus in unserer Kultur verankert ist – und wie sich Aktivismus in öffentlicher Auseinandersetzung, in Humor und in radikaler Selbstbeschreibung ausdrücken kann. Das Essay kann schmerzhaft sein, weil es die Normalität ableistischer Gedanken entlarvt. Gleichzeitig zeigt Johnson, wie sich theoretische Debatten über Leben und Tod einfangen lassen. „Gegen die schreckliche Reinheit von Singers Vision setze ich den Unrat, die Unordnung und die unwiderlegbare Realität gut gelebter behinderter Leben. Das ist alles, was ich tun kann.“

Der Essay Unspeakable Conversations ist auf Englisch in Disability Visibility: First-Person Stories from the Twenty-First Century (Hg. Alice Wong, Knopf Doubleday Publishing Group, 2020) erschienen.

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Harriet McBryde Johnson: Too Late to Die Young • Judith Thompson: The Thrill (Theaterstück inspiriert von Johnsons Leben)

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