The Invisible Kingdom
Sick Book Club #1
Chronische Erkrankungen bilden die Lücken in unseren Lebensläufen. Meghan O’Rourke beschreibt das Verschweigen von Verletzlichkeiten als „die Pathologie unserer Gesellschaft“. The Invisible Kingdom ist ein poetischer Versuch, die Sprachlosigkeit um chronische Erkrankungen zu durchbrechen.
Warum dieses Buch – warum jetzt?
Nach Covid-19 sprachen plötzlich alle über Long Covid. Die Mechanismen, die O’Rourke beschreibt, betreffen aber bis heute Millionen: Menschen mit Autoimmunerkrankungen, ME/CFS, Long Covid, Allergien und seltenen Diagnosen. Ihr Buch ist Memoire, Recherche und Kulturkritik in einem: Es zeigt, wie schnell chronisch kranke Menschen psychologisiert, beschämt und alleingelassen werden. Und wie wichtig Solidarität, Empathie und Gesehen-Werden im Gesundheitssystem sind, damit Menschen sowohl gesund als auch sprachfähig werden.
The Invisible Kingdom ist allen gewidmet, die nach Antworten suchen.
Worum geht’s?
O’Rourke begleitet ihre eigene Krankheitsgeschichte, von den ersten, unscheinbaren Anzeichen bis zu körperlichen Zusammenbrüchen und dem Bäumchen-Wechsel-dich-Spiel der Diagnosen. Anhand ihrer persönlichen Reise ins Herz des amerikanischen Gesundheitssystems zerlegt die Lyrikerin und Essayistin die Narrative der modernen Medizin: die Sehnsucht nach eindeutigen Ursachen, die 15‑Minuten-Sprechstunde, die soziale Selektivität von Fürsorge, das empathische Defizit in Ausbildung und Klinik, die verführerischen, aber problematischen Versprechen der Alternativmedizin. Vor allem aber: Sie zeigt, wie Sprache, Kultur und Gesellschaft die Genres unserer Geschichten um Krankheit prägen.
Der Care-Effekt wirkt. In einer Szene beschreibt O’Rourke, wie eine Ärztin freundlich zu ihr sagt, sie bilde sich ihre Symptome nicht ein. „Wir sind vielleicht einfach noch nicht weit genug, Ihnen zu helfen.“ Diese Freundlichkeit – und die simple Tatsache, dass die Ärztin ihre Erkrankung anerkannte – gaben O’Rourke Halt. Anerkennung ist kein Trostpflaster, sondern ein physiologisches Signal: Dein Nervensystem darf runterregeln, dein Körper ist sicher. So legen viele Studien nahe, dass emotionale, zwischenmenschliche Care-Arbeit ein wichtiger Faktor im Gesundheitssektor ist. Und dies führt auch zu messbaren Auswirkungen auf Therapie-Erfolg. Die Wissenschaft beschreibt diesen Zusammenhang als „Care-Effekt“.
Krankheit ist nicht nur ein individuelles Problem. O’Rourke erklärt, wie der religiöse Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde Anfang des 20. Jahrhunderts von Sigmund Freud und seinen Nachfolger*innen in ein neues Narrativ übersetzt wurde. Schwer zu behandelnde Erkrankungen galten plötzlich als Ausdruck des Unbewussten, von Tabus und verdrängten Emotionen. Dieses Denken wirke sich bis heute aus. In unserer säkulären und individualisierten Gesellschaft würden Erkrankungen leicht als eine Aufgabe gesehen, an der Menschen persönlich wachsen könnten. Ein weiterer Anlass der Selbstoptimierung. Dadurch aber werde chronische Erkrankung als individuelles Problem gesehen, nicht als soziale Frage.
Diskriminierung macht krank. Menschen, die sich mit Blick auf ihre Kräfte oder finanziellen Möglichkeiten nicht leisten können, nach den Ursachen ihrer Erkrankung zu forschen und Spezialist*innen zu finden, können im Gesundheitssystem leicht verloren gehen. Klasse, Herkunft, Geschlecht – all das kann zur Barriere werden. Offener Rassismus und unbewusste Vorurteile sind Studien zufolge auch in Kliniken und Arztpraxen weit verbreitet.
So kommt O’Rourke auch auf die Weathering-Hypothesis von Arline G. Gironimus zu sprechen. Die Public-Health-Forscherin Geronimus entwickelte 1992 ihre Hypothese, um zu erklären, warum Schwarze Frauen schon in jungen Erwachsenenjahren signifikant häufiger krank sind als ihre weißen Altersgenossinnen mit besserem sozioökonomischen Status. Gironimus‘ These: Die permanente Belastung durch strukturellen Rassismus und soziale Benachteiligung führt zu einem dauerhaften, krankmachenden Stress. Sie „zehrt“ den Körper auf. Strukturelle Diskriminierung verursacht chronischen Stress. Chronischer Stress macht krank. Meghan O’Rourke treibt diesen Gedanken mit Blick auf ihren Diagnostik-Marathon einen Schritt weiter: „Being sick makes you stressed. But being stressed makes you sicker.“
“Krankheiten, die wir nicht verstehen, werden häufig als Ausdruck eines inneren Zustands betrachtet”, schreibt O’Rourke. Je weniger wir über eine Krankheit wüssten, desto eher neigten wir dazu, diese zu psychologisieren.
Für wen (nicht)?
Für alle, die mit chronischen Erkrankungen leben und verstehen wollen, warum das System Menschen mit seltenen oder unsichtbaren Erkrankungen so oft verliert. Wer gerade selbst tief im Diagnostik-Marathon steckt, sollte wissen: Das Buch triggert auch. Es kann aber auch der dringend benötigte Beschreibung für das sein, was du erlebst.
Die englische Ausgabe ist bei Riverhead Books erschienen. Das Paperback kostet 18 Euro. Es sind auch E-Book und Hörbuch erhältlich. Ihr wollt The Invisible Kingdom auf Deutsch lesen? Dann schreibt doch mal eurem Lieblingsverlag und fragt nach, warum es noch keine deutsche Ausgabe gibt.
Weiterlesen
Susan Sontag: Illness as Metaphor • Christina Crosby: A Body, Undone • Arline Geronimus: Weathering-Hypothese • Virginia Woolf: On Being Ill
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