Disfigured

Sick Book Club #2

Wie sieht ein Happy End aus, wenn du dich eher mit dem Biest als mit der Schönen identifizierst? Wenn behinderte Figuren verspottet, bemitleidet oder zur Mahnung gemacht werden – und die Erlösung immer erst dann kommt, wenn das „Andere“ verschwindet? Amanda Leducs Entstellt – Über Märchen Behinderung und Teilhabe zeigt, wie tief Märchen – von den Brüdern Grimm über Hans Christian Andersen bis Disney – unsere Erwartungen an Körper, „Normalität“ und Glück prägen. Und warum es neue Geschichten und Heldenreisen braucht, um vielfältige Körperlichkeit sichtbar und erzählbar werden zu lassen.

Memoir und Kulturkritik

Amanda Leduc erzählt, wie tief die archetypischen Erzählbögen der Märchen unsere Wahrnehmung der Welt prägen. In einer Mischung aus Memoir und Kulturkritik legt sie die Verbindung zwischen abwertender Darstellung in Märchen und struktureller Diskriminierung offen. Dabei verwebt Leduc, die seit ihrer Kindheit mit Zerebralparese lebt, geschickt Märchenmotive mit medizinischen Darstellungen und biografischen Erfahrungen. In Rückgriff auf Arztbriefe und OP-Berichte legt sie offen, wie nah Medizin und Märchen einander kommen können. So wird ein VP shunt – ein winziges Ventil, das Leduc mit drei Jahren das Leben rettete – zu einem magischen Gegenstand. Ein Knöchelchen, das die Himmelspforte öffnet. Oder?

“Glücklich bis an ihr Lebensende oder schreckliche Tragödie und Traurigkeit”. Diese beiden Optionen säßen uns im Hinterkopf, mit all den Geschichten, die wir als Kinder erzählt bekamen, so Amanda Leduc.

Und was kommt nach dem Happy End?

Tatsächlich ist es das Leben nach dem vermeintlichen Happy End, dem Amanda Leduc nachspürt. Schließlich ist eine erfolgreiche medizinische Behandlung kein Ende, sondern ein Anfang. In der linearen Erzählung vom Glück, die in vielen Märchen steckt, verbirgt sich ein ableistisches Ideal. Behinderung werde häufig als „narrative Prothese“ genutzt. Es seien immer die Protagonist*innen, die sich verändern müssten, aber niemals die Welt, schreibt Leduc. Aber warum eigentlich? Chronische Verläufe, Schmerz, Ambivalenz, Freude, Diskriminierung, Solidarität – sie alle sind erzählbar, ohne dass behinderte und kranke Körper „abgelegt“ oder vernichtet werden müssen.

Wann kommen wir an einen Punkt, an dem sich Behinderung so selbstverständlich in Geschichten einfügt wie eine gute Fee? Gute Frage, Amanda Leduc.

Intimität mit dem eigenen Körper

Disfigured – so der treffende Titel des Originals – setzt sich für Erzählungen ein, in denen Behinderung nicht symbolisch repräsentiert wird, sondern Ausgangspunkt der Heldenreise ist. Was passiert, wenn behinderte Figuren ihr Leben gestalten, Zugehörigkeit finden und die Gesellschaft verändern?

Amanda Leduc spürt diesen komplexen Erzählungen nach. In den Tiefen der Disability Studies, in den CGI-Oberflächen der Superhelden-Filme – und auch in den populären Volksmärchen von Wilhelm Grimm bis Walt Disney. Denn häufig bedürfte es nur eines Zauberworts: Akzeptanz. Ein Happy End ist schließlich nicht das Ende. „Behindert zu sein, ermöglicht ein Maß an Intimität mit dem eigenen Körper, dass, ironischerweise, nicht-behinderten Menschen nicht offensteht“, so Leduc. „Wir können nicht nur glücklich sein trotz unserer Behinderung. Wir können glücklich sein wegen ihr.“

Behindert zu sein, ermögliche ein Maß an Intimität mit dem eigenen Körper, dass, ironischerweise, nicht-behinderten Menschen nicht offen stehe, so Leduc.

Für wen (nicht)?

Für alle, die verstehen wollen, wie tief Ableismus in unseren Kulturtexten steckt – und wie wir anders erzählen können. Für Leser*innen, die bereit sind, geliebte Märchen neu zu sehen.

Amanda Leduc: „Entstellt: Über Märchen, Behinderung und Teilhabe“, übersetzt von Josefine Haubold, ist im Jahr 2021 bei Nautilus Flugschrift erschienen. Die englische Originalausgabe “Disfigured: on Fairy Tales, Disability, and Making Space” wurde 2020 von Coach House Books in Toronto herausgegeben.

Weiterlesen

Tobin Siebers: Disability Aesthetics • Ann Schmiesing: Disability, Deformity, and Disease in the Grimms Fairy Tales • Alice Wong: Unbroken and Unbowed: Revisiting Disability Representation on Game of Thrones

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